Was Erdogan als Machtzuwachs des Präsidenten durchgesetzt hat, beinhaltet nur formale Macht. Der Widerstand wird entschiedener, weil die Anhänger der unterlegenen Parteien nicht bis zur nächsten Wahl stillhalten, weil sie nicht mehr sicher sein können, trotz gewonnener Wahl die Regierung übernehmen zu können. Sie fühlen sich institutionell ihrer Chancen beraubt.
Die Angst des Präsidenten
Die gewachsene und damit zu einem guten Teil unkontrollierbare Macht des Präsidenten wird das Misstrauen verstärken. Hinzu kommen Berichte über das enorme Vermögen, das Erdogan zugewachsen ist, weil er Bauunternehmer mit Aufträgen versorgt hat. Die Gülenbewegung ist für Erdogan deshalb so gefährlich, weil sie über ihre Mitglieder, die im Justizapparat und im Geheimdienst ausgestiegen sind, wohl über weitere Unterlagen verfügt, die Erdogan und seine Minister belasten. Die Unsicherheit des türkischen Präsidenten erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass Verwandte und Minister nicht nur den IS unterstützen, sondern auch daran auch verdient haben.
Ungreifbarkeit des Gegners
Weil Erdogan die oppositionellen Kräfte aus der Öffentlichkeit und dem Parlament herausgedrängt hat, artikulieren diese sich nicht mehr auf der öffentlichen Bühne und sind auch für die Polizeidienste immer weniger greifbar. So sehr Erdogan durch den Sieg bei der Abstimmung gewonnen hat, so wenig kann er damit anfangen. Es ist wie bei einem Sicherungssystem, von dem der potentielle Einbrecher den Code kennen würde. Dem wäre ein einfaches Türschloss vorzuziehen, das man nur von innen verriegeln kann, also eine parlamentarische Demokratie, in der über die Kräfteverhältnisse Transparenz herrscht. Der institutionelle Machtzuwachs wird die Ängste des türkischen Präsidenten nur verschärfen. Unter dem Begriff "Cäsarenwahn" wurde der psychische Mechanismus erklärt.
Inzwischen verlautet bereits, der Ausnahmezustand werde verlängert.
Die Todesstrafe
Warum die Türkei die Todesstrafe braucht, wird aus der zunehmenden Intransparenz erklärbar. Wenn die immer gefährlich bleibenden Prozeduren eines Machtwechsels nicht mehr durch demokratische Verfahren ihres Gefahrenpotentials entkleidet werden, braucht es für die Stabilisierung der Macht einschneidende Werkzeuge. Die Freiheit der Medien muss außer Kraft gesetzt werden, die Justiz ihre Unabhängigkeit verlieren, die Zahl der Posten, die mit Gefolgsleuten besetzt werden, möglichst bis auf jeden Bahnhofsvorsteher hinunter durchgesetzt werden. Auf jeden Fall braucht ein Regime, wie es Erdogan aufrichtet, eine geheimdienstliche Durchdringung aller Bevölkerungskreise. Offensichtlich reicht das für das Amt des Staatspräsidenten aber noch nicht. Die Einführung der Todesstrafe ist kein Zeichen von gewonnener Stärke durch die Abstimmung, sondern von Bedrohungsgefühlen. Erdogan kann wohl erst wieder ruhig schlafen, wenn er seine politischen Gegner beseitigen kann. Aber kann er ruhig schlafen? Der Putsch der Luftwaffe und einiger anderen Einheiten hat ihm gezeigt, dass der mächtigste Mann im Staat diesen Staat doch nicht in der Hand hatte. Wenn die Gülen-Bewegung den Putsch organsiert hat, dann konnte Erdogan nicht mehr den Ausgleich suchen. Da aber die Gülenbewegung sich bereits in vielen Institutionen eingenistet hatte, brauchte Erdogan Monate des Ausnahmezustandes, um sich seiner Macht wieder sicher zu sein. Um seine Angst zu besiegen, scheint die Todesstrafe unerlässlich.
Für den Islam stellt die Todesstrafe kein Problem dar. Blickt man auf seine Geschichte, dann wird er immer von innerem Widerstreit um die Macht gebeutelt. Sind es im Christentum die Häresien, so im Islam die politische Macht der Streitpunkt. Da diese sich in den Anfängen von der Abkunft vom Propheten herleitete, gab es bald Sunniten und Schiiten. Die Kämpfe um den Kalifenthron gingen weiter. Der Kampf zwischen Erdogan und Gülen geht wieder um die Macht – auf Kosten der Religion.
Link: Erdogans Cäsarenwahn
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