Papierene Symbolik
Die Inszenierung und der Jubel über das Ergebnis der Abstimmung sollen wohl demonstrieren: Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Eigentlich ist es nur ein symbolischer Sieg, denn rechtlich, steuerlich, in der Akzeptanz der Mehrheit waren die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bereits der Ehe nicht mehr nachgeordnet. Dass dann Konfetti das Besondere dieses parlamentarischen Sieges zum Ausdruck bringen sollte, zeigt, wie papieren der Sieg des Fortschritts sein muss. Eigentlich bedient sich der Fortschritt nur der Symbolik dessen, was überwunden werden sollte. Das Standesamt und nach Möglichkeit der Traualtar sind doch Darstellungsformen einer Gesellschaft, die eigentlich durch ständige Reformen überwunden sein müsste. Wenn das Neue nicht die Kraft für eine eigenständige Symbolik entwickelt, dann ist es doch fragil.
Die Krisen werden in die Partnerschaft verlegt
Die Institutionalisierung der sexuellen Zweierbeziehung wurde von der Kultur, die diese Form entwickelt hat, nicht zuletzt zur Entlastung dieser wohl schwierigsten Konstellation unter Menschen entwickelt. Es war eben nicht für alle gedacht. Die Riten vermittelten dem Paar selbst wie ihrem Umfeld, dass beide in eine neue Existenzform umgeformt worden sind. Sie sind nicht mehr ein Liebespaar. In manchen Regionen wird erst geheiratet, wenn das Haus gebaut ist. Der Mensch muss Vater und Mutter verlassen, um einen neuen Haushalt zu gründen. Das ist schon längst eingeebnet. Man zieht zusammen und trennt sich auch wieder, um dann wieder bei den Eltern Unterschlupf zu finden. Die emotionalen Kosten sind enorm. Wie viele dieser Krisen, in die keine Gesetzgebung hinreicht, stehen einem jungen Menschen bevor, der nicht mehr mit der stabilisierenden Funktion der Ehe rechnen kann. Der Staat kann nur die Rahmenbedingungen gestalten. Je mehr er davon durch Liberalisierung abbaut, desto höher sind die emotionalen Kosten für die direkten Betreiber einer Partnerschaft. Und wie sollen Frauen sich für eine Schwangerschaft entscheiden können, wenn ihnen die Institution Ehe kaum noch Sicherheit bieten kann, nicht mit dem Kind allein gelassen zu werden. Aber war die Abstimmung falsch?
Die SPD verrät das Gerechtigkeitsmantra ihres Vorsitzenden
Die Abstimmung wurde als Sieg der Fortschrittlichen über die "Ewig Gestrigen" inszeniert. Man wollte noch einmal zeigen: Es wird tatsächlich immer besser. Aber haben z.B. die 75 Abgeordneten der CDU für den Fortschritt gestimmt? War es nicht eine Wiedergutmachung an einer Minderheit, die für eine wohl naturhafte Veranlagung strafrechtlicher Diskriminierung ausgesetzt war. Konnte eine Gesellschaft, die neben der Familie als Versorgungsgarantie eine Kranken- und Rentenversicherung aufgebaut hatte, Kindergärten unterhält und damit die Großfamilie von Versorgungsleistungen entlastete, nicht gleichgeschlechtliche Partnerschaften zulassen. Die Zahlen belegen das. Neben den beim Staat registrierten 38 Millionen Ehen gibt es keine 50.000 eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Vielleicht ist die Gleichstellung dieser Partnerschaften sogar eine Wiedergutmachung für die Leiden dieser Menschen, die ihnen angetan wurden und auch noch werden. Dass nicht der Fortschritt, sondern die Gerechtigkeit die tragfähigere Leitidee sein muss, zeigt ein Blick auf die Kulturen, die sich nicht dem westlichen Fortschritt verschrieben haben.
Die Dekadenz des Westens
Es ist die westliche Welt, die sich an sich selbst berauscht und den Fortschritt nicht nur technisch für sich beansprucht. In den Augen Russlands wie des Islam besiegeln die westlichen Gesellschaften mit dieser Art der Reformen ihren Untergang. Die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe gilt in dem Wertverständnis der Orthodoxie wie des Islam als Symbol dafür, dass man dieses Gesellschaftsmodell ablehnen muss. Der Graben zwischen Ost und West wird tiefer, die Distanz der muslimischen Minderheit zur Mehrheitsgesellschaft größer. Der Westen kann seine östlichen Nachbarn immer weniger von seinem Wertverständnis überzeugen. Das hat eine Vorgeschichte. Der Kommunismus war eine westliche Idee, die nicht im Westen, sondern im Osten umgesetzt wurde. Weil dieser westliche Import sich als Desaster entpuppt hat, kehrt man zu den alten Gesellschaftsideen zurück. In Zentralasien erlebt der Islam eine Renaissance, weil es nach dem Ende des Kommunismus keine andere tragfähige Idee gibt. Gefährlich, zuerst für Russland, aber dann auch für den Westen, ist die salafistische Ausprägung dieser Renaissance. Der Islam hat sich an eine wörtliche Auslegung des Korans gebunden und will den frühen Islam, also das für die arabische Stämmesgesellschaft entwickelte Werte- und Rechtssystem wiederherstellen. Das ist zwar ein aussichtsloses Unterfangen, jedoch bietet die westliche Welt jungen Muslimen keine überzeugendere Identifikationsmöglichkeit. In Russland wird die vom Westen kritisierte enge Verbindung der Mehrheitspartei mit der Orthodoxie als Abgrenzung vom Westen zugespitzt, weil westliche Ideen so eingeschätzt werden, dass sie die russische Gesellschaft zersetze. Diese Partei nennt sich nicht zufällig „Einiges Russland“. Der Konfettiregen zeigt diesen Kulturen, dass sie sich nicht auf das westliche Modell einlassen müssen. Würde man auf der Ebene der Gerechtigkeit nicht nur argumentieren, sondern dafür eine rituelle Symbolik entwickeln, dann würde man die Lebensbedingungen von Homosexuellen und Lesben in diesen Gesellschaften nicht noch unnötig verschärfen. Der Westen zeigt sich unfähig, sein Modell zu exportieren, ob wie die USA mit Waffen oder Europa mit seiner Liberalisierung, beide stoßen auf Ablehnung.
Erlahmung des Fortschrittsmantras
Wenn die fehlende Symbolkraft darauf hinweist, dass der Fortschritt seine Reformideen inzwischen durchgesetzt hat und ihm weitere fehlen, dann müssen sich die nicht nur die Politiker auf eine neue Epoche einstellen, die auf Fortschrittsideen nicht mehr reagiert. Wenn es aber keine Fortschrittsgläubigen mehr gibt, dann macht auch Konservativismus keinen Sinn mehr. In Frankreich scheint diese neue Epoche bereits das politische Kräfteverhältnis zu bestimmen. Dass die Abstimmung zur "Ehe für alle" ein rückwärtsgewandter Sieg war, zeigt der Blick auf die anstehenden Wahlen. Die Politik kann keine grundlegenden Verbesserungen versprechen, sondern nur eine erträglichere Gestaltung des staatlichen Handelns.
Gerechtigkeit bleibt Maßgabe der Politik. Sie solle die Gesellschaft so gestalten, dass Gerechtigkeit für alle mehr umgesetzt wird. Was nach dem Auslaufen des Fortschrittselans Gerechtigkeit bedeutet, muss die SPD jetzt erst einmal herausarbeiten. Denn die Idee braucht eine neue Konkretisierung. Wenn es Schulz und seinem Team nicht gelingt, die alten Parolen hinter sich zu lassen, sondern der Leitidee neue Konturen zu verschaffen, dann verpufft das Aufbruchssignal. Noch schwerer haben es die Grünen. Diejenigen, die die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften verlangten, haben sowieso schon Grün gewählt. Aber was bieten die Grünen anderes an als eine weitere Bürokratisierung der Umwelt, nämlich nur neue Gesetze und deren Ausführungsbestimmung. Sie haben die Umwelt zu einem Objekt der Verwaltung gemacht. Aber wollten wir nicht eine Umwelt, die dem Zugriff des Menschen wieder mehr entzogen wird?
Russland, zerrissen zwischen Europa und Asien
Russland gegen den Westen und die USA
Ein Kommentar von Eckhard Bieger SJ
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