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Die umstürzende Gewalt der Krise

Das Coronavirus breitet sich aus, nicht Schritt für Schritt, sondern immer schneller. Wir können das aus unseren Alltagserfahrungen nicht einschätzen. Johannes Wahl erklärt, wie unausweichlich die Folgen sind, warum wir zuerst mit Panik und dann mit Verdrängung reagieren.

Neulich habe ich den neuartigen Coronavirus als statistisches Beispiel für meine Nachhilfeschüler in Mathe benutzt, denn Exponentialfunktionen und Verzinsung sind gerade Thema in ihrem Unterricht. Die Wirkung war interessant: Ein kurzer Panikmoment, dann ein „Nein, das kann nicht sein“. Die meisten Menschen scheinen mit nicht-linearen Prozessen überfordert zu sein. So als sähe man ein Gespenst. Mathematik bekommt dann den Ruch von Aberglauben.

Nicht-lineare Prozesse

Was sind nicht-lineare Prozesse? Für gewöhnlich leben wir in Rhythmen mit gleichartigem Puls. Jede Sekunde ist gleichlang, unsere Schrittlängen haben den gleichen Abstand, was wir tun, tun wir gleichmäßig. Unsere Wahrnehmung ist darauf eingestellt. Das sind lineare Prozesse. Natürlich kann es sein, dass wir einmal schneller laufen oder langsamer flanieren. Doch auch das ist gleichmäßig. Nur das Niveau ist höher oder tiefer. Nicht-lineare Prozesse dagegen sind nicht gleichmäßig, sondern verdichtend oder erweiternd. Wir kennen das in zwei Formen: Bei der Vollbremsung und beim Take-off im Flugzeug. Wenn wir „in die Eisen gehen“, dann spüren wir plötzlich den Geschwindigkeitswechsel. Der Brustkorb wird in den Gurt gepresst, die Reifen quietschen, der Magen erinnert sich an die letzte Achterbahnfahrt. Noch mehr wird das bewusst, wenn die Vollbremsung nicht durch das Bremspedal, sondern durch ein Verkehrshindernis ausgelöst wird. Abrupt hat sich die Situation geändert. Beim Flieger liegt die Sachlage umgekehrt. Man wird in den Sitz gepresst und die Reifen drehen tendenziell eher durch. Gut, der Magen erinnert sich wieder an die Achterbahnfahrt.
In beiden Fällen gab es nicht-lineare Prozesse. Beim Bremsen wechseln wir von einem gleichmäßigen Prozess, nämlich der gleichmäßigen Geschwindigkeit, in den exponentiellen Prozess. Beim Fliegen wechseln wir vom exponentiellen Prozess, dem Beschleunigen, in den gleichmäßigen Prozess, die Reisegeschwindigkeit.

Die beiden Beispiele helfen uns vielleicht, die Andersartigkeit nicht-linearer Prozesse zu verstehen. Doch das reicht aber noch nicht aus für unseren Eingangsfall. Noch erklärt das nicht, warum erst Panik, dann Verdrängung einsetzt. Der Hintergrund hierfür: Bremsen und Abflug sind begrenzte Prozesse. Es wird ein Zustand erreicht, der entweder das Ende des Prozesses bedeutet (Stillstand) oder in einen gleichmäßigen Prozess mündet (Reisegeschwindigkeit). Unser Fall aber, exponentielles Wachstum einer Virusinfektion, hat kein absehbares Ende. Wir kennen die Grenzen nicht. Sie können nur abgeschätzt und dann eingegrenzt werden. Wann, ja ob überhaupt, der nicht-lineare Prozess in einen linearen übergeht, das wissen wir nicht.

Wir können uns das so vorstellen: Man sitzt in einem Ferrari mit Automatikgetriebe und fährt auf der Autobahn. Plötzlich verhakt sich das Gaspedal und der Sportwagen zieht an. Bei Tempo 100 ist noch alles entspannt. Bei Tempo 120 bewegt man sich bei der üblichen Reisegeschwindigkeit, soweit so normal. Bei Tempo 140 kommen erste Risiken, weil Überholvorgänge mehr Aufmerksamkeit benötigen. Bei Tempo 160 beginnt die Nervosität: Was wenn wer jetzt plötzlich ausschert? Bei Tempo 180 hält man das Lenkrad angespannt fest, bei Tempo 200 drückt man sich selbst in den Sitz. Bei Tempo 220 kippt die Stimmung und Verzweiflung bahnt sich an. Bei Tempo 240 rechnet man mit dem Schlimmsten. Bei Tempo 260 bereitet man sich mental auf den kommenden Crash vor. Bei Tempo 280 hat man sich innerlich von seinen Lieben verabschiedet und der Welt „Leb wohl!“ gesagt. Bei Tempo 300 erscheint alles nur noch wie im Traum. Ab Tempo 320 gibt es keine bewusste Wahrnehmung der Situation mehr. – So oder so ähnlich kann man sich das vorstellen. Nur: Das geschieht nicht über einen Zeitraum von 20 Minuten, sondern von 20 Sekunden. Und freilich ist bei jedem die Panikgrenze verschieden. Manche bekommen bei Tempo 140 nervöse Schweißperlen, andere sind bei Tempo 220 tiefenentspannt. Doch bei jedem ist irgendwann die Grenze erreicht.

Gesundheitskrise

Am 23. Januar wurden mehrere Provinzen Chinas mit einer Ausgangssperre belegt. Damals war das alles noch weit weg. Inzwischen ist die Ursache der Ausgangssperren auch bei uns in Europa angekommen. Ein guter Grund, um die Folgen für die kommenden Wochen zu betrachten. Betrachten wir die unmittelbaren Folgen: die Auswirkungen für die Gesundheit.
„It’s just the flu!“ Unter diesem Stichwort wurde zu Beginn des Virenausbruchs eine Parallele zur jährlichen Grippe, dem Influenza-Virus, gezogen. Freilich gibt es Gemeinsamkeiten. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehört als erstes, dass beides Viren sind. Das bedeutet: Es gibt keine verlässlich wirksamen Arzneimittel dagegen und die Viren vermehren sich nicht linear, sondern exponentiell. Ebenfalls gemeinsam ist die Ausbreitung des Virus. Es breitet sich vornehmlich durch Tröpfchen und kontaminierte Oberflächen aus. Doch damit beginnen zugleich die Unterschiede. Denn das neuartige Coronavirus bildet sog. Aerosole. Es ist mit Wasserdampf vergleichbar. Sehr kleine Tröpfchen bilden ein Gemisch mit der Luft und bleiben stabil in der Luft schweben. Sie fallen nicht auf den Boden. Diese Aerosole sind ein großer Faktor, weil Toilettenspülungen solche Gemische bilden (Deckel runter vor dem Spülen!), weil Gebäude mit Luftaustauschsystemen ohne Entkeimungsanlage diese Aerosole massiv verteilen. Besonders öffentliche Gebäude sind hier also zu meiden.

Das Virus ist tödlicher als Grippeviren

Ein weiterer Unterschied betrifft die Vorsorge. Gegen Influenza gibt es jährlich neue Impfstoffe. Ebenso ist dieser Virustyp bei uns bekannt. Die meisten Menschen haben in ihrem Immunsystem schon ähnliche Antikörper gebildet. Der Körper ist daher schon teilweise vorbereitet. Das Coronavirus dagegen ist hier völlig neu. Es gibt keinerlei Vorbereitung für das Immunsystem. Und es gibt auch keine Impfstoffe. Man hofft nun auf schnelle Forschungserfolge. Ob das realistisch ist? Man hat für den SARS-Virus, ebenfalls ein Coronastamm, der 2002 ausbrach, bis heute keinen Impfstoff, der über die experimentelle Phase hinausgekommen ist.
Ein weiterer Unterschied liegt in der Ansteckung. Bei Influenza können nur Infizierte mit Symptomen den Virus verbreiten. Bei dem neuen Coronavirus dagegen können auch Infizierte ohne Symptome die Krankheit verbreiten. Diese Phase zwischen Ansteckung und Symptomen nennt man Inkubationsphase. Bei dem neuartigen Coronavirus beträgt diese Phase zwischen 2 und 14 Tagen. Allerdings wurden auch Fälle von bis zu 27 Tagen berichtet.
Ein letzter Unterschied besteht in der Letalität: Die gewöhnliche Grippe hat eine Letalität <0,1 %. Es sterben also im Schnitt weniger als 1 von 1000 Erkrankten an der Grippe. Der neuartige Coronavirus, so aktuelle Schätzung, hat eine Letalität von 2-3 %, also zwischen 20 und 30 von 1000 Erkrankten. Damit entspricht dieser Virus ungefähr der Spanischen Grippe von 1918, die zwischen 20 und 100 Millionen Menschen getötet hat. Die Letalität ist keine absolute Größe, sondern ein Quotient und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Etwa 20 % der Erkrankten haben einen schweren Krankheitsverlauf und bilden eine Lungenentzündung aus, die behandelt werden muss. Dazu gehört die künstliche Sauerstoffzufuhr, um die Sauerstoffsättigung des Blutes zu erhöhen. Wenn nun die Zahl der schwer Erkrankten so groß ist, dass die Kapazitäten für die Sauerstofftherapie erreicht ist, dann erhöht sich logischerweise der Letalitätsquotient. Daher sind besonders Länder gefährdet, die über keine entsprechenden Kapazitäten verfügen. Die Letalität wird in solchen Ländern deutlich höher liegen als in jenen mit hohen Kapazitäten.
Das neuartige Coronovirus ist deutlich gefährlicher als die saisonale Grippe. Über Quarantänemaßnahmen lässt sich das Virus auch nicht eindämmen, weilesr sich während der Inkubationsphase asymptomatisch verbreiten kann. Man kann eben nur Menschen mit Symptomen unter Quarantäne stellen. Dazu kommen die nicht-linearen Prozesse, wie sich das Virus ausbreitet. Es wächst so schnell, das die Kapazitäten der Krankenhäuser in wenigen Tagen an ihre Grenzen stoßen. Inwieweit Notfalldienste dann noch verfügbar sind, werden wir sehen. Jedenfalls werden sie massiv überlastet sein.

Quarantäne wird unausweichlich

Wie werden wir Herr der Lage? Es ist illusorisch zu glauben, man können dieses Virus aufhalten. Die asymptomatische Verbreitung während der Inkubationszeit macht das unmöglich. Hinzu kommt die Ignoranz vieler Menschen, die das Virus als einfache Grippe abtun. Die Strategie heißt daher nicht aufhalten, sondern verzögern. Das ist entscheidend. Die Belastung des Gesundheitssystems soll möglichst niedrig gehalten werden, damit genug Kapazitäten für schwer Erkrankte verfügbar bleiben. Die Ansteckungsrate soll daher minimiert werden. Es gibt dagegen nur ein einziges Mittel: Quarantänemaßnahmen. Was am 23. Januar in Wuhan und den umliegenden Provinzen verfügt wurde, wird auch hier eingesetzt werden. Italien hat mit diesen Maßnahmen bereits begonnen. Die Situation in China dauert noch an. Es sind fast fünf Wochen seitdem vergangen. Wir können die Krise nicht vermeiden. Es gilt nun: durch die Krise hindurch und am besten vorbereitet. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat vor einigen Jahren schon empfohlen Vorräte für 14 Tage vorzuhalten. Es wäre angemessen, diese Vorräte auf 28 Tage aufzustocken. Ansonsten gelten die gleichen Maßnahmen wie bei der Grippe: Desinfizieren, Händewaschen, Kontaktvermeidung, ggf. Mundschutz und Schutzbrille, um Kontakt mit den Schleimhäuten einzudämmen. Die nächsten Monate werden hart!

Es folgt ein weiterer Beitrag zu den Auswirkungen auf Wirtschaft und Staat

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