Mykola Synelnykow

Die Ukraine kann nicht aufgeben

Ein Bericht aus Kyjiw von unserer Korrespondentin Maria Karapata. Wer diesen Artikel bis zum Ende liest, versteht, warum die Ukrainer und Ukrainerinnen sich nicht den Russen ausliefern werden.

Montag, 27.06.2022; während ich diesen Beitrag schreibe, wurde ich mit einer Nachricht erschüttert: “Die Russen haben einen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der Stadt Krementschuk in Poltawa-Gebiet verübt. Mehr als 1.000 Zivilisten befanden sich darin. Die Zahl der Opfer ist noch immer schwer zu ermitteln. Die Rettungskräfte sind schon vor Ort im Einsatz. Mehr Informationen später”.

Hinter “mehr Informationen” stehen in der Regel furchtbare Zahlen von Getöteten, die zur gräßlichen Routine jedes Ukrainers und jeder Ukrainerin geworden sind. Der Morgen des 26. Juni begann für mich mit der Nachricht vom Raketenbeschuss in Kyjiw, ganz im Stadtzentrum. Das 7., 8. und 9. Stockwerk wurden zerstört. Ein Kind wurde verletzt, sein Vater wurde getötet.

Nachdem die Ukraine am 24. Juni EU-Beitrittskandidat geworden ist, hat Russland der Ukraine dazu „ganz herzlich“ mit massiven Raketenangriffen gratuliert. Insgesamt wurden etwa 40 Raketen vom Territorium Weißrusslands abgefeuert. Später wurden weitere Luftangriffe in mehreren Gebieten der Ukraine bekannt: Schytomyr, Tschernihiw, Mykolajiw, Dnipropetrowsk, Khmelnytsky und Lwiw. 

Solche Nachrichten tauchen jeden Tag in den ukrainischen Medien auf. Man schafft es nicht, die Opferzahlen zu verfolgen, die stündlich zunehmen. Ganz zu schweigen von den östlichen und südlichen Regionen, die planmäßig und sorgfältig von den Russen in Schutt und Asche gelegt werden. Die Infrastruktur der Stadt Sjewjerodonezk, im Luhansker Gebiet wurde vollständig zerstört, 90 % der Gebäude wurden beschädigt oder zerstört. Mariupol und Azovstal, Bucha, Irpin wurden zu einer tiefen nationalen Wunde, die niemals heilen wird.

Wenn ich meine ukrainische Freundin, die in Deutschland lebt, frage, wie es ihrer Mutter und ihren Verwandten in Mykolajiw geht, bekomme ich immer dieselbe Antwort: Es wird bombardiert, jeden Tag bombardiert, nichts Neues. Den Ukrainern und Ukrainerinnen ist auch bewusst, dass vieles in den Massenmedien verschwiegen wird, absichtlich oder einfach, weil es unmöglich ist, über alles zu berichten, was in einem Dorf oder einer Stadt passiert ist.

Etwa 20 % des Territoriums der Ukraine wird jetzt von den russischen Besatzern kontrolliert, Stand 2.Juni 2022. Das ist mehr als die Fläche Belgiens, der Niederland und Luxemburgs. Wie kann man das begreifen? Soll man das überhaupt irgendwie begreifen? Was kann man damit anfangen? Wie leben jetzt die Menschen dort, in dem besetzten Territorien? Es gibt zu viele Fragen und zu wenig Antworten. Jeder von uns meistert diesen Krieg so gut man kann, niemand weiß, wo die richtigen Lösungen liegen, es gibt nur irgendwelche Lösungen.

Trotzdem versuchen wir, weiter zu leben. Friedliches Leben ist zurzeit ein sehr imaginärer Begriff, ob man sich in Kyjiw, Lwiw, Iwano-Frankiwsk oder woanders befindet. Nirgendwo in der Ukraine kann man sich in Sicherheit fühlen, dafür sorgt Russland. Ja, wir können morgens Kaffee trinken, zwischen Sirenen spazieren gehen oder uns eine Serie auf Netflix anschauen. Aber das ist nur der sichtbare Teil des Eisbergs, der unser Leben ausmacht. Alle Ukrainer und Ukrainerinnen, gleich ob Zuhause oder im Ausland, sind an ihrer eigenen Arbeitsfront engagiert: militärisch, wirtschaftlich, freiwillig, kulturell, informativ. Selbst wenn unser Leben sorglos aussehen sollte, geben wir uns unglaublich viel Mühe, irgendein Leben weiter zu haben. Ich kann lachen und zum Yoga gehen, aber schon eine halbe Stunde später kann ich im Supermarkt in Tränen ausbrechen. Wir kaufen neue Kleidung und spenden diese jeden Tag spendieren an die Armee, an betroffene Kinder, an Familien gefallener Soldaten oder an Tierrettungsfonds. Die Taten sagen mehr als Worte: nur in drei Tagen haben die Ukrainer 600 Millionen Ukrainische Hrywna für vier Bayraktars gesammelt, eine Kampf- und Aufklärungsdrohne, die Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Boote und Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme zerstört. Das ursprüngliche Ziel war drei Bayraktars für eine Woche. Schließlich hat das türkische Unternehmen Baykar beschlossen, drei Bayraktars der Ukraine kostenlos zu überlassen. Wir beweisen jeden Tag, dass es für uns keine Hürde gibt, wenn es um unsere freie Zukunft und die unabhängige Ukraine geht.

Der Krieg in der Ukraine ist noch nicht vorbei. Die Welt ist von diesem Krieg inzwischen müde geworden. Viele möchten, dass diese Konfrontation so schnell wie möglich zu Ende kommt, gleich mit welchem Ergebnis. Das angesehene Massenmedium NYT hat spekuliert, dass die Ukraine gezwungen sein könnte, mit Russland einen Kompromiss einzugehen und “schmerzhafte territoriale Entscheidungen hinzunehmen”. Nein, Danke! Während des 20. Jahrhunderts haben wir schon genug “schmerzhafte Entscheidungen” getroffen. Die Kompromisse mit Terroristen funktionieren nicht. Anders kann man nicht den Staat nennen, dessen Raketen täglich Zivilisten in Wohnblöcken oder Einkaufszentren töten.

Wenn man vom Krieg in der Ukraine ncihts mehr hören will, kann man die Nachrichten einfach überspringen. Für uns sind aber die entsetzlichsten, die unglaublichsten Nachrichten unser Leben, unsere jetzige Realität. Leider können wir unser Leben nicht überspringen. Wir leben weiter, leben und kämpfen.

Wenn Sie unseren gemeinsamen Sieg der Ukraine über Russland näher bringen wollen, kommen weiter zuverlässige Fonds, für die man auch aus dem Ausland spenden können:

https://www.comebackalive.in.ua/

https://prytulafoundation.org/en/home/support_page


Kategorie: Orte

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