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Demokratischer Staatsstreich in Kairo

(explizit.net) Ägyptens Militär hat Muhammad Mursi am letzten Mittwoch abgesetzt, die Verfassung aufgehoben und am Folgetag den Chef des Obersten Verfassungsgerichts Adli Mansur als Präsident des Übergangs eingesetzt. Ein Jahr brauchen alle für ein neues Grundgesetz und Wahlen. Dahinter steht Verteidigungsminister Abd al-Fattah as-Sisi, seit einem Jahr auch Führer der Streitkräfte. Er war es, der den demokratischen coup d'état lenkte: Nach Ablauf eines zweitäigen Ultimatums, in dem die Krise durch den Dialog aller Seiten bewältigt werden sollte. Mursi habe alle Chancen voll verpaßt. Die TV-Zuschauer sahen neben as-Sisi den Großscheich Ahmad at-Tayyib der al-Azhar-Universität, den Koptenpapst Tawadurus II. und Muhammad al-Baradai. Die Kairiner jubelten auf dem Befreiungsplatz, Islamisten wüteten. Bis zum gestrigen Sonntag forderte „Rache“ über drei Dutzend Tote und tausend Verletzte.

(explizit.net) Ägyptens Militär hat Muhammad Mursi am letzten Mittwoch abgesetzt, die Verfassung aufgehoben und am Folgetag den Chef des Obersten Verfassungsgerichts Adli Mansur als Präsident des Übergangs eingesetzt. Ein Jahr brauchen alle für ein neues Grundgesetz und Wahlen. Dahinter steht Verteidigungsminister Abd al-Fattah as-Sisi, seit einem Jahr auch Führer der Streitkräfte. Er war es, der den demokratischen coup d'état lenkte: Nach Ablauf eines zweitäigen Ultimatums, in dem die Krise durch den Dialog aller Seiten bewältigt werden sollte. Mursi habe alle Chancen voll verpaßt. Die TV-Zuschauer sahen neben as-Sisi den Großscheich Ahmad at-Tayyib der al-Azhar-Universität, den Koptenpapst Tawadurus II. und Muhammad al-Baradai. Die Kairiner jubelten auf dem Befreiungsplatz, Islamisten wüteten. Bis zum gestrigen Sonntag forderte „Rache“ über drei Dutzend Tote und tausend Verletzte.

As-Sisi begründete den Schritt vor allem damit, daß Mursi keine Dialogofferte annahm und bis zuletzt seine Wahl als frei gewählter Präsident herauskehrte. Er wurde nicht mehr den Aspirationen breiter Schichten gerecht, die dann ihre Abstimmung mit den Füßen auf den Straßen zeigten. Jeder sah ein Jahr, wie undemokratisch sich der Islamist mauserte, wie er die Verfassung durchdrückte, die Ägypten der Islamokratie zuführte. Da er Polzei gegen die Protestler lenkte, die widerstanden, gerieten alle in eine chaotische Sackgasse.

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Genug

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As-Sisi, Jahrgang 1954, reißt das Land vom Kollisionskurs weg in den lebbareren Alltag. Alle stehen noch vor dem Sozial- und Wirtschaftsruin: keine Zeit für unfähige Islamisten, und ihren Wunsch, den Bürgern die antimodernen Idole und Schariaregeln aufzuzwingen. Speziell Jugendliche und Frauen, mehr als eine Bevölkerungshälfte, möchten freier leben, Chancen in Bildung und Beruf erfahren. Dies stoppten Islamisten als sie die Lotusrevolte 2011 für ihr rückständiges Modell hijackten. Jetzt legt die Armee diese Zwangsjacke ab.

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Ägypter sammelten 120 Jahre Erfahrungen mit Wahlen und Parlamenten. Muslimbrüder, Nachkriegskinder der deutsch-osmanischen Jihadisierung des Islam im Ersten Weltkrieg, kamen nicht als Almosenverein auf. Ihr Führer Hasan al-Banna mischte durch sie Islam und Politik. Wie Pakistans Islamist Abu al-Ala al-Maududi wünschte er einen Islamstaat. Doch anders als dieser mit seiner Idee der Jihadrevolten, baute al-Banna den Islamismus vorsichtiger aus. Aber es blieb ein antimodernes Extrem. Als er sich den Nazis zuwandte und von ihnen Geld erhielt, ging er radikaler gegen koloniale Briten und ihre Stützen vor.

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Viele hofften, Hitler würde sie von Briten befreien. Nach Attentaten auf Politiker auch nach 1945, verbot Kairo diese Muslimbrüder. Al-Banna wurde 1949 ermordet. Als ein Bruder 1954 auf Präsident Abd an-Nasir schoß, wurden sie verfolgt, ihr Mentor Sayyid Qutb 1966 erhängt. Ihm galt das Linksegime als unislamisch. Die Brüder flüchteten nach Westeuropa: Genf, Hamburg, München und Aachen, wo ihre Nachfolger 9/11 planten. Pr’sident Anwar as-Sadat entließ sie ab 1971 aus Kerkern. Sein Parteigesetz verbot 1976 Parteien auf religiöser Basis, um Extreme zu meiden. Sie traten der Wafdpartei bei oder als Unabhängige auf. Haß auf Andersgläubige fiel auf. Als as-Sadat mit Israel Frieden schloß, ließ ihn ihre Gruppe al-Jihad 1981 ermorden. Bis 2000 griffen sie immer weiter zum Mord an den Politikern, Denkern wie Najib Mahfuz, und Touristen, auch Deutsche.

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Sündenliste

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Mursi sah sich berufen, allein für seine Islamisten zu wirken, nicht alle. Er begann, alles zu diktieren. Als Oppositionelle unter Protest die Gremien verließen, hätte er einlenken müssen. Da es um das widrige Grundgesetz ging, gab er den Eindruck, als komme ihm dies recht, um rascher seine islamistischen Ziele durchzusetzen. Als Autokrat erlaubte er Übergriffe gegen Minoritäten: Juden im Sturm auf Israels Botschaft und Christen. Viele Kopten sehen keine Zukunft, wandern aus. Mursi baute ein Monopol für Muslimbrüder, erlaubte Amerikas Botschaft mehrtägig zu belagern und Jihadis nach Syrien zu senden.

Der Nilstaat, verkörpert durch die Protestierenden und jüngere Generationen der Armee, setzte dem ein Ende. Mursis freiere Machtübernahme, hinter der Fragzeichen stehen, galt ihnen nicht als alleiniger Prüfstein, sondern wie undemokratisch er regiert hat. Per Erlaß stellte er sich über das Recht. Plakate wie “Raus Versager” kamen auf. Kairo blieb nur der Befreiungsschlag, um wieder Ziele der Revolte von 2011 zu verfolgen. Wie konnte das Pyramidenland eine Macht dulden, die vorislamische Epochen völlig verworfen hat?

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Entschleiert

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Ägypten war im 20. Jahrhundert ein Vorreiter in Licht und Schatten. Dabei zeitigten die Revolte und Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg liberale Chancen für Frauen. Huda Shaarawi bildete erstmals eine Mädchenschule, einen Frauenverein, das Frauenjournal L´Egyptienne und tat mit als erste öffentlich ihren Schleier ab. Obwohl Muslimbrüder sie bekämpften, hielt die Liberalität bis zur Islamisierungswelle der 70er Jahre an. Den Rest an Fortschritt bauten Mursis Islamisten ab. Viele Frauen stellten sich am 30. Juni gegen ihn. So, wie Shaarawi vor 90 Jahren, legten Frauen auf dem Tahrirplatz den Schleier ab. Angesichts von 6.000 Jahren seßhafter Geschichte ordneten sie mithin 1.400 Jahre Islam und 80 Jahre mit Islamismus der Muslimbruderschaft ein. Kairo stoppt Extreme. Könnten die Brüder nicht einmal einen Essaywettstreit zu ihrem Beitrag zur Zivilisation ausloben?

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Fehler

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Einige Europäer sahen in der demokratischen Notwehr einen Rückschritt. Sie verurteilten diesen „Militärcoup“ und begehen zwei Fehler: die Annahme, Ägypten war im Übergang zur Demokratie. Längst drängte Mursi jedoch alle in eine Islamokratie. Iranische Kritiker warnten davor, per Grundgesetz den Islam über alles zu stellen: viel gelte so als Kritik am Glauben. Reformer würden als Islamfeinde verfolgt. Journalisten sahen das schon am Nil.

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Fehler zwei, da Ägypter und Armee dies demokratisch abwehren, stellen viele Form über Inhalt: sie singen im Westen das Lied der Islamisten. Dabei taten Ägypter nur das, was dort ansteht: eine Agenda des Antiislamismus. Im Mutterland der Demokratie ermordete ein Islamist einen Soldaten vor Kameras. Ähnlich in Frankreich, das laut Literat Boualim Sansal eine Islamistenmafia überziehe. Kanzlerin Merkel empfing Mursi am 80 Jahrestag von Hitlers Machtergreifung, am Tag, als 60 Leute durch Mursis Kurs starben. Präsident Obama drohte am 4. Juli (!), die Hilfe zu entziehen. Ermuntert er Islamisten zur Gewalt? Sonntag hieß ein Plakat der Rebellen in Kairo: „Obama unterstützt die 9/11-Terroristen.“ Ein Regent, der sich mit dem islamistischen Extremismus auskennt, begrüßte den Schritt der Armee und Liberalen in Kairo: der saudische König Abdullah. Geboren 1924, hegt er seine Kalküle. Indes weiß er, was für extrem islamistische Geister Mursi entfesselt hatte.

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<emphasize>Wolfgang G. Schwanitz</emphasize>



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