(explizit.net) Immer mehr Jugendliche nehmen sich das Leben, weil sie auf Social-Media-Foren von Klassenkameraden und anderen Teilnehmern, die sie noch nicht einmal kennen, beschimpft, mit Gerüchten verfolgt, mit Bildern erpresst oder gar zu sexuellen Handlungen gezwungen werden. Die Erinnerung an die englische Hannah, die sich vierzehnjährig erhängte, weil sie wegen der Nachfrage nach Behandlung ihres Ekzems von Usern eines solchen Netzwerks dazu aufgefordert wurde, ist noch greifbar.
Aktuell haben die Amerikaner im Zuge ihrer Bemühungen, jugendliche Amokläufer zu verhindern nun die Diskussion vermehrt aufgenommen. Die Ursachen liegen hierbei aber woanders und sind differenzierter. Noch ist schlecht zu sagen, ob es statistische Unterschiede bei der Beurteilung von Mobbing in der realen und der virtuellen Welt gibt und inwieweit die Profile suizidal gefährdeter Kinder auf die Nutzer solcher Netzwerke zu übertragen sind. Fest steht aber, dass auch das Internet solche Anregungen geben kann, die einer therapeutischen Behandlung suizidaler Neigungen eher im Wege stehen.
Auswege aus seelischem Leid
Dahinter steht häufig eine depressive Erkrankung, wie sie gerade bei Jugendlichen wegen der hormonellen Umstellung im Pubertätsalter phasenweise auftritt. Auch Erwachsene erleiden statistisch gesehen einmal im Leben eine klinisch manifeste Depression. Meistens bleibt es jedoch bei Episoden, die weit davon entfernt sind, zu akut suizidalen Zuständen zu führen. Weil die Selbsttötung in diesem Fall aber eine Kurzschlusshandlung ist, die einen Ausweg aus depressivem Leidensdruck eröffnet, kann eine durch solche Hetzkampagnen verursachte Stimmung dazu führen, dass gerade Jugendliche diesen Ausweg wählen, weil sie aufgrund mangelnder Lebenserfahrung noch keine Erfahrungen im Durchleiden dieser Episoden haben.
Eltern haben wenig Chancen, ihren Kindern zu helfen
Selbstverständlich kann man die Eltern dazu bringen, mehr auf die Internetaktivitäten ihrer Kinder zu achten - für Sicherheit zu sorgen, wo es möglich ist - aber es ist heutzutage nicht mehr zu verhindern, dass Kinder sich Zugang zu sozialen Netzwerken verschaffen. Außerdem ist eine Verbotsmoral hier alles andere als eine Lösung. Gerade die jungen Menschen leben immer mehr in solchen virtuellen Welten, die bestenfalls ein Verlängerung ihrer eigenen, schlechtestenfalls aber ein Fluchtort und eine eigene Welt für vereinsamte und kontaktgestörte Menschen ist. Zum Kreis dieser Personen zählen zunehmend häufiger auch Kinder. Es ist auch aussichtlos, auf eine solche Weise an das Problem herankommen zu wollen, weil die Kinder eben nicht darüber reden werden. Das Handy zu kontrollieren ist wie das Tagebuch zu lesen und kann zu einem endgültigen Vertrauensbruch zwischen Eltern und Kind führen. Kinder, die in einer solchen Situation sind, nutzen auch das Handy nicht, um telefonisch nach Hilfe zu fragen, was unter anderem an der Struktur der psychischen Störung liegt.
Chancen für Begegnungen schaffen
Man muss also die Kinder dort abholen, wo sie sind – im Netz! Das bedeutet zum einen, die Administratoren solcher Netzwerke angemessen in die Pflicht zu nehmen. Zum anderen braucht es virtuelle Anlaufstellen, die für solche Kinder ansprechend formuliert sind, welche nach Lösungen ihrer Probleme suchen.
Der erste Punkt funktioniert in denjenigen Netzwerken ganz gut, wo der Admin oder ein Beauftragter die Beiträge liest und destruktive Entwicklungen durch Löschen und Benachrichtigen der Beteiligten verhindert. Der Admin ist aber überfordert, wenn es um konkrete Zusammenhänge geht, wo seelsorgerliche und/oder therapeutische Qualitäten erforderlich sind. Hier könnte eine Weiterleitung der Beiträge an einen Cyberseelsorger nützlich sein, der das Gespräch mit dem Kind dort aufnimmt, wo es steht, und es gegebenenfalls in virtuellen Privaträumen weiterführen kann.
Der zweite Punkt ist teilweise schon verwirklicht: Es gibt Angebote, aber es ist eher weniger das Aufrufen einer Website oder einer App wie „Cyberseelsorge“, was die Kinder dazu bewegt, sich helfen zu lassen. Vielmehr schreiben diese das Thema eher als ganzen Satz in die Suchzeile und man ist überrascht bis bestürzt, wenn ein Suchergänzungsprogramm wie das von Google solche Anfragen vervollständigt. Es braucht für solche Suchanfragen Texte im Netz, die neben einem Gesprächsangebot positive Inputs und Anregungen geben können. Das können Gedichte sein, aber auch so etwas wie therapeutische Briefe.
Diese können als offen formulierte Briefe bestimmte Benutzerprofile ansprechen und von diesen Benutzern aufgrund solcher Suchanfragen gefunden werden. Manchmal, und wenn auch nur manchmal, rettet das richtige Wort zu rechten Zeit dann sogar das Leben eines Kindes und das sollte uns jegliche Bemühung wert sein.
<emphasize>Michael Sinn</emphasize>
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