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"barmherzig" - Fastenimpuls 2014 - Tag 32

(explizit.net)

Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt - Tag 32 der Fastenimpulse "barmherzig" von Pater Erich Purk

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Es hatte schon zur Spielpause unserer Grundschule geklingelt, als sie sich mir an der Schultür entgegen stellte. „Das ist aber kalt hier“, stellte sie fest, frierend und hustend in ihrem viel zu dünnen Anorak. Mit ihren großen Augen – pechschwarzwie ihre langen Haare – schaute sie mich unglücklich an. Ich lud sie ein, mit mir über den Schulhof zu gehen und die Pausenaufsicht zu machen. Als sie immer noch über ihre eiskalten Hände jammerte, nahm ich ihre linke Hand und steckte unsere Hände zusammen in meine warme Manteltasche.

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Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt - Tag 32 der Fastenimpulse "barmherzig" von Pater Erich Purk

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Es hatte schon zur Spielpause unserer Grundschule geklingelt, als sie sich mir an der Schultür entgegen stellte. „Das ist aber kalt hier“, stellte sie fest, frierend und hustend in ihrem viel zu dünnen Anorak. Mit ihren großen Augen – pechschwarzwie ihre langen Haare – schaute sie mich unglücklich an. Ich lud sie ein, mit mir über den Schulhof zu gehen und die Pausenaufsicht zu machen. Als sie immer noch über ihre eiskalten Hände jammerte, nahm ich ihre linke Hand und steckte unsere Hände zusammen in meine warme Manteltasche.

Dann erzählte mir die neunjährige Bianca ihre unglaubliche Lebensgeschichte: Als ihre Mutter mit ihr ungewollt schwanger wurde, warf ihr Vater sie aus dem Haus. Wegen der schwierigen Arbeitszeiten als Krankenschwester, nun ganz auf sich allein gestellt, arbeitete die Mutter nach Biancas Geburt fast nur noch nachts in verschiedenen Berufen, wurde alkoholkrank wie ihr Partner, der die junge Mutter gewaltsam im Beisein des kleinen Mädchens tötete. Das Kind hatte alles mitbekommen und konnte den Tathergang genauestens beschreiben.

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Die ledige Patentante und Freundin der Mutter nahm sich des Mädchens an. Als die Tante dann selber heiratete und eigene Töchter bekam, fühlte sich Bianca beiseite geschoben,wurde eifersüchtig auf die neuen Geschwister und belastetedie ganze Familie, die sie schließlich in unser örtliches Kinderheim gab, wo sie nun ihre erste Nacht verbracht hatte.

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Schon nach der großen Pause war ich mir sicher, dass Bianca in unserer Familie „landen“ würde. Unsere Familie, das sind mein Mann, unser damals 21-jähriger Sohn, unsere 19-jährige Tochter, beide Studenten und nur noch zeitweise zuhause und unser 7-jähriger jüngster Sohn. Tief bewegt vom Schicksal des kleinen Mädchens, kreisten unsere Gespräche in der Familie in der nächsten Zeit nur noch um das eine Thema: Können wir berufstätigen Eltern es schaffen, ein schwer traumatisiertes Kind in unsere Familie aufzunehmen,dem fremden Kind und unseren eigenen Kindern noch gerecht werden, das Neue uns zumuten? Bei unseren heimlichen Beobachtungen waren wir alle angetan von Biancas Natürlichkeit, Spontaneität und Fröhlichkeit. Nach intensiven Gesprächen mit dem Jugendamt und der Teilnahme an einem Pflegeelternseminar wagten wir – fast ein Jahr nach der ersten Begegnung – das große Abenteuer.

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Am Nachmittag des Martinstages lernte sie uns in unserem und bald auch ihrem Zuhause kennen. Als die Glocken in der Dämmerung zum Martinszug der Gemeinde läuteten ,zogen wir mit beiden Kindern und ihren Laternen mit. Überglücklich und stolz ging sie zwischen meinem Mann und mir an der Hand als unsere neue „Tochter“ und mit ihrem jüngeren „Bruder“ laut singend den Weg. Wir neuen „Eltern“ waren auch sehr bewegt und zutiefst überzeugt, verantwortungsvoll die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dass sie selbst 8 Jahre später auf ihrem eigenen Pferd als St. Martin glücklich durch unsere Gemeinde reiten würde, gehört zu den erfüllten Höhepunkten ihres und unseres viel zu kurzen gemeinsamen Lebens.

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Bianca war dankbar für ihren Platz in unserer Familie, war Herausforderung und Bereicherung zugleich. Viele persönliche und schulische Defizite konnten durch die kontinuierliche Betreuung ausgeglichen werden. Sie war unglücklich, wenn sie uns zu sehr belastet oder enttäuscht hatte. In der Sicherheit, wieder eine „Mama“ gefunden zu haben, begann sie fast jeden Satz mit: „Mama, …!“ Sie war künstlerisch und sportlich hochbegabt. In ihrer großen Tierliebe spürte sie verletzte Tiere auf und pflegte sie verantwortungsbewusst. Nach ihrem Realschulabschluss wollte sie Heimerzieherin werden und dann später noch studieren, so waren ihre Pläne.

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„Mama, wo ist Gott für mich? Warum gerade ich?“ So lauteten ihre Fragen nach der Diagnose „Leukämie“. Wir wussten auch keine Antwort! Zunächst schien die Medizin alles im Griff zuhaben. Der große Tumor zwischen Herz und Lunge, der ihr die Kraft raubte und sie immer husten ließ, war durch Bestrahlungen und Chemotherapien fast verschwunden.

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Bianca kämpfte so tapfer und schien alle Rückschläge voller Hoffnung wegzustecken. Sie genoss dankbar die besondere Zuwendung der Familie und großen Verwandtschaft, ihrer Freundinnen und Freunde während ihrer Krankheit. Der Abschied von ihrem Hund und ihrem geliebten Pferd ging fast über ihre Kräfte. In dieser Zeit des Loslassens und im Schwinden ihrer Kräfte war sie noch bemüht, uns Eltern und Geschwistern Freude zu bereiten und uns zu trösten. Zu Weihnachten brachten wir ihr die Krankenkommunion auf die Intensivstation. „Du fällst nicht tiefer als in Gottes Hände“, konnte ich ihr noch sagen, bevor sie an die Beatmungsmaschine angeschlossen wurde. „Ich weiß, Mama“, waren ihre letzten Worte.

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Als die ersten Silvesterraketen in den Abendhimmel aufstiegen, war ihr so bewegtes irdisches Leben nach 19 Jahren beendet. Am kältesten Morgen des gesamten Winters, in Eis und Schnee, hat eine sehr große Trauergemeinde ihr und uns die Ehre gegeben und sie auf ihrem letzten Weg begleitet.

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Wenn ich heute nach fast 17 Jahren zu Sankt Martin Biancas Grab pflege und mit Kerzen und Blumen schmücke, frage ich mich inzwischen nicht mehr nach dem „Warum“. Heute kann ich erkennen, dass es einfach unsere Aufgabe in einem begrenzten Zeitraum war, ihr in unserer Familie einen Platz zu geben und sie durch die schlimme Zeit der Krankheit bis in den Tod liebevoll und sorgend zu begleiten. Wir alle sind durch die Zeit mit Bianca ungewöhnlich belastet, aber noch ungleich mehr bereichert, verändert und beschenkt worden. Übrigens starb Biancas Hund bald nach ihr an Krebs und ihr geliebtes Pferd musste ein halbes Jahr später wegen Krankheit eingeschläfert werden.

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Für heute: Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt. (Spr 16,9)

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<emphasize>Renate Ostrop</emphasize>



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