Johannes Wahl
Wenn es denn
wahr wäre: Gottes Wort, ein großer Liebesbrief an mich! – wie gehe ich dann mit
diesem Brief um? Nüchtern und sachlich wie ein Amtsschreiben einer staatlichen
Behörde? Mitleidig und bekümmert wie eine Beileidskarte? Vergnügt und
überfröhlich wie ein Urlaubsgruß? Verdrießlich und gereizt wie eine Rechnung?
Liebesbriefe
bringen mich zum Träumen. Wie viele Entwürfe sind wohl zerknüllt in den
Papierkorb gewandert? Welche Tränen wurden darauf vergossen, welche Hoffnung
darauf gesetzt? In welchem Tempo pocht das Herz dahinter? Welche Zärtlichkeit
liegt auf jenen Tintenstrichen! Warum ausgerechnet ich? Wie kann jemand es nur
wagen? Und welche Liebe treibt die Worte aufs Papier? – Zwar wechseln die
Hände, mit denen der Brief geschrieben wurde. Doch der Geist ist in allem
derselbe. Also erhebe ich mich zu den Händen, um den Geist zu atmen.
Leider landet
der Liebesbrief Gottes irgendwo - nur nicht bei mir. Meine Aufgabe: Diesen
Liebesbrief aus dem Müll, aus der Ecke hervorzuholen und zu entknittern. Ich
bin doch gemeint! Also versuche ich, ihn zu lesen, ihn zu verstehen. Was ich
dabei entdecke, das versuche ich verständlich zu machen und weiterzugeben. Bis
zu dem Punkt hin, dass ich die Handschrift Gottes nicht nur auf dem Papier der
Heiligen Schriften entdecken kann, sondern die ganze Welt zum lesbaren Brief an
mich wird.
- wahl.johannes@gmail.com