Das Hungertuch ist auf zwei gleich große Leinwänden gemalt. Es zeigt in diesem Sinne zwei sich gegenüberstehende Menschen. Das Geschlecht der beiden Figuren ist nicht bestimmbar, sie sind weder als Mann, noch als Frau zu erkennen. Dies ist bewusst durch den Künstler intendiert, denn in erster Linie, so erklärt Chidi Kwubiri, begegne man einander als Menschen. Auffällig ist, dass zwischen den beiden Leinwänden, eines in sattem Grün, das andere in strahlendem Gelb, ein kleiner Zwischen-Raum als Abstand bestehen bleibt. Dieser Raum wird jedoch durch das jeweilige Festhalten der beiden Menschen an den Schultern ihres Gegenübers und den intensiven Blickkontakt zueinander überwunden. Damit wird der bestehende Spalt nicht zu einer Grenze, sondern vielmehr zur verbindenden Brücke zwischen beiden.
Menschenbild als Korrektiv für die Globalisierung
Das diesjährige Hungertuch bringt damit zum Einen die afrikanische Lebenswirklichkeit, welche sich in Ubuntu ausdrückt, sinnlich zum Ausdruck, zum Anderen verweist es aber auch auf die Notwendigkeit der Förderung eines global-gesellschaftlichen Dialoges. In Anlehnung an das afrikanische Selbstverständnis, „Ich bin, weil du bist“, sollen Berührungsängste abgebaut und ein respektvolles Miteinander gefördert werden. Dies erfordere einen Dialog auf Augenhöhe, so betont Misereor in seinen Ausführungen zum Hungertuch. Nur so ließen sich Spaltungen und Grenzen überwinden. Durch diese neue Aktion reagiert das katholische Hilfswerk für Entwicklungszusammenarbeit auf die Defizite einer zunehmenden Globalisierung, die ganze Bevölkerungsgruppen an die Ränder der Gesellschaft drängt. Die Aussage des Hungertuches soll Menschen dazu einladen, Fremdes nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern stattdessen eine Kultur der Offenheit zu fördern.
Das Menschsein des Anderen
Ubuntu, „Ich bin, weil du bist“ – dahinter steht das Wissen des Menschen, dass er mit anderen Menschen, mit Gott, aber auch mit seiner Umwelt in Beziehung steht. Ubuntu bezeichnet demnach eine universale Geschwisterlichkeit, welche mit einer Verantwortung für den gemeinsam bewohnten Lebensraum einhergeht. Es gibt viele Definitionen für diese spirituelle Weltsicht. Einige afrikanische Philosophen definieren Ubuntu als „existing in“ oder „caring for each other“. Der südafrikanische Philosoph Mogobe B. Ramose beschreibt dieses Phänomen wie folgt: „Ein Mensch zu sein heißt, sein Menschsein durch die Anerkennung des Menschseins anderer Menschen zu bestätigen, und auf dieser Grundlage menschliche Beziehungen mit ihnen zu unterhalten.“ Die Dynamik von Ubuntu richtet das Leben immer auf Entfaltung aus. Der einzelne Mensch bedarf persönlicher Beziehungen, um sich als Person weiterentwickeln und seine Fähigkeiten ausschöpfen zu können. Am Beginn des Lebens ist er deshalb nur ‚potentiell’ Mensch. Erst im Verlauf seines Lebens entwickelt er sich durch Interaktion mit seinen Mitmenschen weiter und wird so ‚mehr Mensch’. ‚Gemeinschaft’ wird aus diesem Grund als ein interpersonales Netzwerk an Beziehungen verstanden. In jeder Beziehung, die der Mensch zu anderen Menschen unterhält, lernt er eine andere Facette seiner selbst kennen. Die soziale Gemeinschaft wird in diesem Falle jedoch nicht bloß als eine lose Sammlung von Individuen verstanden, sondern vielmehr als ein zusammenhängender Organismus. Ubuntu zielt immer auf die Einheit in Vielheit ab.
Angesichts der derzeitigen globalen Herausforderungen, wie den Flüchtlingsbewegungen, markiert die afrikanische Tradition des Ubuntu eine eindrückliche Vision menschlichen Zusammenlebens, die Orientierung auch innerhalb des europäischen Kontextes schenken kann. „Ich bin, weil du bist.“ Dies bedeutet zugleich: „Ich erkenne mich erst im Gegenüber zu dir und werde durch dich Mensch.“
Marita Wagner
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